The Digital Turn Revisited. Oder was wir aus den «Blade Runner»-Filmen über die Fotografie lernen können.
Von Bernd Stiegler

Oktober 2018

Der vorliegende Beitrag von Bernd Stiegler geht auf einen Vortrag zurück, der im September 2018 im Rahmen des Spectrum-Weekends Data & Matter in Soglio (Bergell) gehalten wurde und auch im Rundbrief Fotografie. Analoge und digitale Bildmedien in Archiven und Sammlungen zu finden ist.

 

Im Zuge der aufgeregten medientheoretischen Debatten der 1980er Jahre, die heute zweifellos historisch geworden sind, wurde ein baldiges Ende des fotografischen Zeitalters prognostiziert. Es ist, wie wir heute wissen, anders gekommen. Dennoch ist die damalige theoretische Nervosität nach wie vor bemerkenswert. Anhand der beiden «Blade Runner»-Filme wird der Blick zurückgerichtet, um die Unruhe, die diese Debatten auszeichnet, besser verstehen und einordnen zu können. In einem zweiten Schritt werden dann die aktuellen Entwicklungen in der Gegenwart kursorisch betrachtet, um mit der größeren Gelassenheit des zeitlichen Abstands einige wenige wichtige Tendenzen zu benennen.

 

Die Geschichte der Fotografie hat viele Evolutionen und Revolutionen zu verzeichnen. Eine jede brachte neue Anwendungsfelder hervor, verschob und erweiterte das Feld des Fotografischen. Zu nennen sind unter anderem der Wandel von der Daguerreotypie als Unikat zum reproduzierbaren Papierbild, der Übergang von der schwarz-weißen zur farbigen Fotografie, aber auch die kürzeren Verschlusszeiten, die neue Bereiche des Sichtbaren eröffneten, oder Techniken wie die Röntgen- oder die Infrarotfotografie. Keine dieser Veränderungen stellte jedoch die Fotografie als Medium infrage, wie es dann bei der digitalen Fotografie der Fall war, die, je nach Deutungsperspektive, eine neue Ära des Fotografischen im Sinne einer «Fotografie nach der Fotografie» oder aber das «Ende des fotografischen Zeitalters» einläutete [1]. Dieses ginge, so wiederum andere kulturdiagnostische Stimmen, mit dem Ende des Gutenbergzeitalters oder der Gutenberggalaxis einher. Wir haben es mit dem seinerzeit erhobenen apokalyptischen Ton der Medientheorie zu tun, der über ein Jahrzehnt hinweg recht aufgeregt die Debatten prägte. Ein Umweg gestattet es, die eigentümlichen Neubesetzungen und Verschiebungen des fotografischen Feldes mitsamt ihren weitreichenden Fragen in anderer Weise zu perspektivieren – zwei Filme, in denen die Fotografie eine nicht unerhebliche Rolle spielt: Ridley Scotts Blade Runner von 1982 und die Fortsetzung Blade Runner 2049 von 2017, bei der Denis Villeneuve Regie führte und Ridley Scott als Produzent firmierte. Die zeitliche Differenz zwischen der Handlung im ersten Teil und jener des Sequels entspricht grosso modo jener der Veröffentlichung und legt daher nahe, dass wir, wenn wir denn einen Film als Gegenwartsdiagnostik begreifen, die vorgenommenen Analysen auch auf die unterschiedlichen historischen Situationen beziehen können.

 

Das ist durchaus erläuterungsbedürftig, da der erste Blade Runner-Film, anders als es den Anschein hat, komplett analog gedreht wurde, und auch die digitale Fotografie noch in ihren Kinderschuhen steckte. Ein erster digitaler Kameratyp stammt bekanntlich aus den 1970er Jahren, auf dessen Prinzipien dann die Mavica, eine Magnetic Video Camera, von Sony zurückgriff, die 1981 vorgestellt wurde. Auf dem Markt setzten sich hingegen digitale Kameramodelle erst Ende der 1980er Jahre allmählich durch und die erste Photoshop-Software kam 1990 in den Handel, um dann aber fast im Jahrestakt durch aktualisierte, erweiterte und verbesserte Versionen ersetzt zu werden. Wir haben es also, wenn wir den ersten Blade Runner-Film betrachten, mit dem Bereich des kulturell Imaginären zu tun, der aber durchaus von heuristischem Interesse ist, da er die Umbruchsituation, die als solche im Film wie auch von den medientheoretischen Diskursen der Zeit konstatiert wird, mitsamt ihren befürchteten, erhofften oder erwarteten Implikationen ausbuchstabiert. Wir sehen, wie man sich im Jahre 1982 die Zukunft der Fotografie – und nicht nur dieser – vorstellte. Dass es Ridley Scott um diese zu tun war, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die der Fotografie gewidmeten Sequenzen in der literarischen Vorlage von Philip K. Dicks Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen (1968) keine Entsprechung haben.

1. Im Reich der Simulation: «Blade Runner» (1982)

Zu Beginn eine kurze Zusammenfassung der Handlung, die dahingehend etwas kompliziert ist, weil der Film Blade Runner auf Ambivalenzen setzt und aus diesen sein kulturanalytisches Potenzial zieht. Noch dazu existieren mehrere Versionen, die sich zum Teil erheblich unterscheiden [2]. Wie dem auch sei: Wir befinden uns im Los Angeles im November des Jahres 2019, dessen düstere Atmosphäre mit gigantischen Leuchtreklamen, Dauerregen und überfüllten Straßen die Bildsprache regiert. Ridley Scott, der damit die Tradition des Film Noir aufgriff, prägte zugleich einen neuen Typ der visuellen Gestaltung, der über lange Zeit die Ästhetik der Science-Fiction-Filme bestimmen sollte. Evoziert wird dabei eine postapokalyptische Situation der Erde, deren natürliche Ressourcen allmählich verbraucht sind. Tiere und Nahrung werden künstlich hergestellt wie auch humanoide Replikanten, die von der mächtigen Tyrell Corporation als Arbeitssklaven für ferne Planeten wie den Mars produziert werden. Von dort entkommt ein Raumschiff mit sechs Replikanten, deren Lebenszeit qua Programm auf vier Jahre begrenzt ist und die sich auf die Erde absetzen, um gegen diese Begrenzung zu rebellieren und ihre Aufhebung zu erwirken. Auf der Erde werden sogenannte Blade Runner eingesetzt, um solche Replikanten, die Menschen täuschend ähnlich sehen, mithilfe eines besonderen Tests, bei dem ihre Augenreaktionen bei der Beantwortung bestimmter Fragen gemessen werden, zu detektieren und diese dann, so der Euphemismus, «in den Ruhestand zu versetzen». Der Film schildert die Jagd des Blade Runners Deckard auf die entkommenen Replikanten, die schließlich nur dadurch erfolgreich ist, dass Roy, der Anführer der Gruppe, sein Ende kommen sieht und bevor er stirbt, Deckard auf das Dach eines Hochhauses zurückzieht, von dem er in die Tiefe zu stürzen drohte. Diese vermeintlich menschliche Geste des Mitleids ist nur das Ende einer Bewegung des Films, die Replikanten immer menschlicher und die Menschen immer technokratisch-zweckrational kalkulierender und grausamer werden lässt. Es geht, mit anderen Worten, um die Unterscheidung von Natur und Technik, des Menschlichen und des künstlich konstruierten Humanoiden. Parallel zur Verfolgungsgeschichte entwickelt sich dabei eine ‹Lovestory› zwischen Deckard und Rachael, der Assistentin des Besitzers der Tyrell Corporation, der die Replikanten erschaffen hat. Er hatte Deckard aufgefordert, auch an ihr den Test durchzuführen, um ihn auf die – am Ende erfolgreich bestandene – Probe zu stellen, da es sich bei ihr um das am weitesten fortgeschrittene Modell der Replikanten handelte. Als Rachael das Gebäude der Firma verlässt, wird Deckard aufgefordert, auch sie zu töten, was er nicht tut – im Gegenteil: Am Ende des Films flieht er mit ihr aus seiner Wohnung. Offen bleibt, was mit ihnen geschieht und auch die Frage, ob nicht auch Deckard seinerseits ein Replikant ist.

 

Was hat nun das alles mit Fotografie zu tun? Es gibt im Film zwei Szenen, bei denen die Fotografie eine zentrale Rolle spielt. Beide scheinen auf den ersten Blick kontradiktorisch zu sein, da die eine auf Simulation und Konstruktion, die andere aber auf Zeugenschaft und Evidenz setzt. Bei der ersten sucht Rachael den Replikantenjäger Deckard in dessen Wohnung auf, um ihn davon zu überzeugen, dass sie keine Replikantin ist. Ihr Beweis ist eine Fotografie, die sie als Kind mit ihrer Mutter zeigt. Die Replikantin Rachael ist gerade deshalb überzeugt, ein Mensch zu sein, weil sie nicht nur über ein umfangreiches Setting von (implantierten) Erinnerungen, sondern sogar über fotografische Kinderbilder verfügt, die sie zusammen mit ihrer Mutter zeigen. Beide kann sie zudem miteinander verknüpfen. Die inneren mentalen Erinnerungsbilder korrespondieren mit den äußeren Anschauungsbildern in Gestalt der Fotografien. Die Fotografie scheint offenkundig – zusammen mit den Erinnerungen – Beleg dafür zu sein, dass sie keine Replikantin sein ‹kann› zumal die Fotografie offenbar aus der Zeit stammt, in der es noch keine Replikanten gab. Das, woran Rachael sich erinnert, muss es, so folgert sie, auch gegeben haben, da man es ja jetzt noch ‹sehen› kann – und noch dazu als Fotografie.

 

Rachael liest Fotografien so, wie es die überlieferten Kulturtechniken nahe legen. Sie machen den Menschen zum Menschen und zwar in doppelter Hinsicht: durch das Dargestellte und durch die Art und Weise, mit ihnen umzugehen, sie zu lesen, sie für das Verständnis, die Konstruktion und die Erinnerung des eigenen Lebens zu nutzen. Fotografische Erinnerungen sind das vorgestellte ‹humanum› der Replikanten: weniger eine generierte und konstruierte Datenbank als vielmehr bildgewordene Erinnerung, ein Bildgedächtnis, das mit Menschen verknüpft zu sein scheint. Replikanten haben – eigentümlich genug – eine fotografische Geschichte, und sie haben nicht nur einen bemerkenswerten Hang zur Fotografie, sie sind die überkommene Geschichte der Fotografie. Erst durch die Fotografie werden Replikanten zu Menschen – zumindest in ihrer Vorstellung.

 

Für Deckard hingegen sind Fotografien nicht mehr und nicht weniger als Materialisationen von ‹visuellen Implantaten›, die ebenso konstruiert sind wie die Erinnerungen der Replikanten. Sie sind artifizielle visuelle Konstruktionen, die nicht länger von der Evidenz des Barthes’schen «Es-ist-so-gewesen» zeugen, sondern einzig vorgeben, es zu tun. Deckard begreift Fotografien als technische Konstruktionen, denen kein Glauben zu schenken ist. Sie sind ebensolche Simulakren wie die auf ihnen Abgebildeten.

 

Mit diesem nüchternen Befund ist jedoch diese Szene keineswegs beendet. Es geschieht noch zweierlei. Zunächst wird, als Deckard, der Rachael in wenig humaner Weise ihre eigenen Erinnerungen so erzählt, als würde er sie ihr aus einem Buch vorlesen, und ihr ihre Traumata regelrecht vorbuchstabiert, die von ihr heruntergeworfene Aufnahme aufhebt, diese größer und größer, bis sie fast die ganze Leinwand einnimmt. Dann beginnt sie sich für einen Augenblick ganz leicht zu bewegen, als würde ein Windhauch über sie hinweggehen und macht aus ihr ein Filmbild. Das analoge fotografische Bild verwandelt sich in ein ebenfalls analoges Filmbild, das bereits den digitalen computeranimierten Bildern zu ähneln scheint. Die Fotografie wird belebt: von den Replikanten im Sinne einer persönlichen emotionalen Aufwertung des Dargestellten und von der Technik als visuelle Konstruktion. Beides – die ganz persönliche Identifikation der Erinnerung mit Fotografien und die technische Überarbeitung und Neucodierung der Bilder – ist offenkundig kaum vereinbar. Dieser Konflikt sät den Zweifel im Regime der Bilder und macht selbst die eigene Identität zu einer zweifelhaften Konstruktion.

 

Und so weicht bei Deckard die Gewissheit, in der Fotografie eine sichtbare Spur des Realen in Händen zu halten, einem immer größer werdenden Zweifel an seiner eigenen vermeintlich menschlichen Existenz. Wenn dieser Beweis bei der Replikantin, in die er sich noch dazu verliebt hat, nicht hinreichend ist, warum dann bei ihm? Auch seine eigenen sorgfältig auf dem Klavier aufgereihten Bilder, die noch dazu wie Teile einer fotografiehistorischen Sammlung anmuten, werden mit einem Mal zu Serien von Filmbildern, die den ontologischen Zweifel ins Herz der Fotografie und auch in die im Film erzählte Geschichte einpflanzen. Von nun an, so die Botschaft des Films, muss Deckard das Lesen von Fotografien wie eine neue Kulturtechnik erlernen, will er es vermeiden, von einer naiven, überkommenen Deutung der Fotografie fehlgeleitet zu werden, will er selbst nicht in die Logik der Replikanten zurückfallen, die Fotografien vermeintlich ‹wie Menschen›, das heißt wie Bilder einer gewissen und unbezweifelbaren Vergangenheit lesen. Das, was er Rachael vorbuchstabiert, muss er auch selbst als neue Bildsprache lernen. Wir sind im Reich der digitalen Fotografie angekommen, in dem die Fotografie Teil an der Simulation hat, die diese Welt regiert. Fortan gilt es, Fotografien als Bilder innerhalb einer simulierten oder zumindest potenziell virtuellen Wirklichkeit zu lesen.

 

Und genau das geschieht in der zweiten Sequenz wenige Minuten später. Deckard scheint nun genau diese Lektion nicht zu befolgen, sondern fährt offenbar fort, Fotografien weiterhin so zu lesen, als seien sie Spuren des Realen. Das ist nun die höchst eigentümliche zweite Wendung, die diese Szene nimmt. Sie endet damit, dass er einen Stapel Fotografien genauer betrachtet, die er in der Wohnung eines der Replikanten gefunden hat. Er blättert sie eher beiläufig wie einen Stapel Erinnerungsbilder durch und legt sie dann beiseite, nicht aber ohne in einer späteren Sequenz des Films dieselben Bilder wieder hervorzuziehen und eines von ihnen einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. In dieser längeren Sequenz studiert der Kopfgeldjäger Deckard minutiös diese Fotos, indem er mittels sprachlicher Befehle Teile vergrößert und so Details erkennbar macht, die dem, wie man einhundertfünfzig Jahre vorher zu sagen pflegte, «unbewaffneten Auge»[3] entgangen sind oder schlicht nicht sichtbar waren. Auch hier stellt die Kamera einen expliziten Bezug zwischen seinen eigenen Fotografien und jenen der Replikanten her, indem sie von den einen zu den anderen hinübergleitet. Die Fotografien werden hier nun in durchaus überraschender Weise erneut als indexikalische Zeichen, ja als regelrechte Indizien vorgestellt, die Deckard bei seiner Suche und Orientierung im Dickicht der Phänomene helfen sollen – und dies im Folgenden tatsächlich auch tun, da ihm die aufgefundenen Hinweise gestatten, einen der Replikanten zu finden und zu töten. Den Beweischarakter, den er den Fotos Rachaels eben noch abgesprochen hatte, nutzt Deckard nun für seine Verfolgungsjagd.

 

Wie kommt man aus diesem Dilemma, aus dieser Ambivalenz von Bildskepsis und Bilderglauben heraus? Man könnte etwa vorschlagen, diesen Bildern einen anderen Status zuzuweisen als Rachaels Kinderbild: Die eine wäre dann eine analoge Aufnahme, die andere hingegen eine manipulierte ‹digitale›. Dagegen spricht jedoch, dass diese Sequenz des Films weitere Eigentümlichkeiten bereithält. Nicht nur, dass Deckard in der Fotografie etwas sichtbar macht, was er dort mit bloßem Auge schlicht nicht sehen konnte. Erst durch die Vergrößerung wird etwas sichtbar, was er allenfalls dort vermutet, aber erst dank einer Vergrößerung der Vergrößerung der Vergrößerung für ihn wahrnehmbar wird. Auch das Bild, das er dann später ausdruckt, entspricht nicht demjenigen, das man zuvor auf seinem Bildschirm erkennen konnte und das auch er dort sah. Der Bildraum der Fotografie ist auf eigentümliche Weise von dem der Wahrnehmung, dem des Auges abgekoppelt – auch wenn dieses motivisch den Film

durchzieht. Die Evidenz der Bilder, so zeigt sich in dieser Szene, ist aber nur dann gegeben, wenn man den Fotografien eher vertraut als der eigenen Wahrnehmung und zugleich Bilder ‹konstruiert›, sie bewusst produziert, oder aber, wenn man von vornherein davon ausgeht, dass das komplette Regime der Bilder seinerseits eine bloße Konstruktion ist, die jedoch über eine inhärente konsistente Logik verfügt.

 

Mit anderen Worten: Die Fotografien verweisen auf eine ihrerseits radikal konstruierte Wirklichkeit, für die eine Trennung zwischen dem Realen und dem Imaginären, dem Bild und dem Abgebildeten, der Fotografie und der Welt der Erscheinungen längst nicht mehr gilt. Die Fotografien sind ebenso konstruiert wie die Wirklichkeit. Das Auge kann sich, abgekoppelt von dieser Welt, der Welt der Fotografie überlassen, die nun zu seiner Welt wird. Die Fotografien verwandeln sich nun erneut in Indizien, in Indizes, die, so sei Walter Benjamin paraphrasiert, einer Spurensuche des Verschwindens des Menschen dienen [4]. Sie sind Beweisstücke im historischen Prozess, die das verlorene Menschliche als überkommenen fotografischen Habitus bloßstellen. Das postfotografische Zeitalter ist eben auch ein posthumanes und ein posthistorisches noch dazu.

 

Wenn Deckard, an diesem Punkt angekommen, dann auch seiner Neigung zu Rachael nachgibt, so ist das nur folgerichtig. In einer dergestalt konstruierten Welt macht in der Tat die Unterscheidung zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, zwischen Wirklichkeit und Simulation, zwischen der Singularität und der Duplikation keinen Sinn mehr. Deckard ist als Jäger der Replikanten auf der Suche nach dem verlorenen Duplikat, dem Wesen der Reproduktion, um es zur Strecke zu bringen, und gerät dabei doch immer tiefer in seinen Sog. Das, was er aus der Gesellschaft der Zukunft auszutreiben sucht, sucht ihn nun selbst heim und greift Zug um Zug auf ihn über. Je mehr Replikanten er erlegt, umso größer wird der Zweifel an seiner eigenen Einzigartigkeit und umso größer wird auch seine Neigung zu Rachael. Die Frage, ob auch er selbst ein Replikant sein könnte, spielt letztlich keine Rolle mehr, da das Regime der Bilder diese Unterscheidung ohnehin obsolet gemacht hat.

 

2. Von Deckard über Descartes zu Plato: Fototheorie um 1980

Ridley Scotts Blade Runner ist stilbildend für die besondere Atmosphäre, die in den Cyperpunk-Romanen und -Filmen, aber auch den mediendiagnostischen Texten dieser Zeit regiert. Die von den Leuchtreklamen erhellte Dunkelheit, der postapokalyptische Gestus, die Auslotung des Umbruchs zwischen analogen und digitalen Bildern, zwischen Realität und Simulation und nicht zuletzt von Menschen und ihnen erzeugten humanoiden Wesen, ganz gleich, ob es sich um Replikanten, Cyborgs oder Klone handelt, evozieren ihre besondere Atmosphäre. Eine Unruhe hat die Welt heimgesucht, die Selbstverständlichkeiten unterminiert, Identitäten auflöst und die kommenden Ordnungen als Bedrohungsszenarien ausmalt.

 

In der Medien- und auch Fotografietheorie dieser Zeit regiert der Konnex zwischen Medien- und Kriegstechnik (Friedrich A. Kittler oder Paul Virilio beziehungsweise die Mad Max-Trilogie), die Annahme einer generalisierten Simulation (Jean Baudrillard und die Matrix-Trilogie), die die alte Weltordnung ablösen wird, und der Kampf der Menschen gegen die Maschinen (Vilém Flusser und die Terminator-Trilogie). Die Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Fotografie fungiert dabei wie ein Kürzel für diese angenommene Zeitenwende. Wie in einem Brennglas bilden die Debatten über den fotografischen ‹digital turn› jene, ungleich großformatigeren der medien- und kulturdiagnostischen dieser Zeit ab. Mit anderen Worten: Bei der Fotografie und ihrer medienphilosophischen Analyse geht es um nichts Geringeres als um den Kampf zwischen Mensch und Maschine, der, so programmatisch Vilém Flusser, aus der Perspektive der Apokalypse betrachtet werden will, denn nur in diesem «apokalyptischen Gesichtswinkel […] gewinnt das Problem der Fotografie die ihm gebührenden Konturen.»[5] Mit diesem seinerzeit erhobenen apokalyptischen Ton in der Medientheorie gewinnt die Erfindung der Fotografie mit einem Mal die Bedeutung einer Krise der Kultur, deren Einsatz nichts Geringeres als die Freiheit des Menschengeschlechts ist. Auf den ersten Blick ist die Fotografie nichts anderes als «programmierte Magie» [6], bei der die magische Qualität nun auf die Seite des Apparats abgewandert ist, der Bilder des «ewig sich drehenden Gedächtnisses der Gesellschaft»[7] produziert. Die Fotografien sind dabei für Flusser durch die Struktur des Apparats festgelegt, dessen Programm von vornherein Grenzen und Möglichkeiten bestimmt und den Fotografen, der nicht mehr als ein «Funktionär» ist, auf ein «Kombinationsspiel mit den Kategorien des Apparats» reduziert [8]. Es komme nun darauf an, mit dem Apparat gegen ihn zu spielen. Das ist der Spielraum, der den Fotografen und, weit mehr noch, den Menschen geblieben ist.

 

Ridley Scotts Blade Runner scheint diese neue Weltordnung filmisch auszugestalten und nimmt dabei mitunter explizit Bezug auf die Debatten der Zeit – oder diese auf ihn. Bereits Deckards Name kommt nicht von ungefähr. Im Film wird Referenz an den Philosophen überdeutlich ausgestellt, da sein «Cogito ergo sum» explizit auftaucht. «We are no computers, Sebastian, we are physical», sagt der Anführer der Replikanten zum Programmierer, und seine Gefährtin fügt hinzu: «I think, therefore I am.» Descartes ist nun auch in den Theorien der Zeit eines jener historisch-philosophischen Relikte der Vergangenheit und der Tradition, die mit dem digital turn programmatisch-diagnostisch über Bord geworfen werden. Mit dem Verschwinden der analogen Fotografie sei, so wollen es zumindest eine Reihe von Deutungen, der ‹cartesianische Traum›, die Geschichte, die Moderne oder gar der Mensch und die Realität als solche, obsolet geworden, sprich ausgeträumt. Descartes ist nicht nur der Diskursgenerator von leitenden Unterscheidungen der abendländischen Kultur, sondern auch der geheime Gründungsvater der Fotografie, wofür sein Vergleich der Wahrnehmung des Menschen mit einer Camera obscura als Beleg angeführt wird. Diese bildet am «Ende des fotografischen Zeitalters»[9] den Ankerpunkt einer historisch-epistemologischen Genealogie, die in der präfotografischen Zeit mit der Erfindung der Camera obscura einsetzt, mit der Fotografie fortgeführt wird, mit der Digitalisierung aber plötzlich an ihre Grenzen stößt, da der Vergleich mit der menschlichen Wahrnehmung in dieser Form nicht länger zu halten ist und auch die mathematisch-perspektivische Entsprechung der ‹res extensa› und der ‹res cogitans› aufgelöst worden sei. Wahrnehmung und Fotografie, Erkenntnis und Technik gehen hier Hand in Hand.

 

An die Stelle dieser sinnfälligen Entsprechung trete nun die Ordnung der Simulakren, die nicht länger mit der Wirklichkeit verknüpft sind. Descartes steht somit emblematisch für das untergehende Zeitalter der Moderne, für jenes der analogen Fotografie und eben auch für eine Wahrnehmung und Erkenntnis, die sich auf die Wirklichkeit bezieht. Der – nicht mit dem Bildwissenschaftler W. J. T. Mitchell zu verwechselnde – Fototheoretiker W. J. Mitchell hat das in seinem seinerzeit sehr erfolgreichen Buch The Reconfigured Eye auf den Punkt gebracht: «An interlude of false innocence has passed. Today, as we enter in the post-photographic era, we must face once again the ineradicable fragility of our ontological distinctions between the imaginary and the real, and the tragic elusiveness of the Cartesian dream. We have indeed learned to fix shadows, but not to secure their meanings or to stabilize their truth values; they still flicker on the walls of Plato’s cave.» [10]

 

Von Descartes geht es zurück zu Plato, wenn aus analogen digitale Bilder werden. Und das alles nur, weil angeblich die Fotografie nicht länger ein indexikalisches Zeichen, sondern, so Peter Lunenfeld, ein «dubitatives Bild» sei, dem der Zweifel hinsichtlich seiner Referenz inhärent ist [11]. «Der Referent», so der bereits zitierte Mitchell, «haftet nicht mehr.» [12] Die digitale Fotografie hat ihn scheinbar abgeschüttelt und damit zugleich die analoge Nabelschnur, die sie mit der Wirklichkeit verband, durchschnitten.

 

Blickt man heute auf diese Debatten zurück, so wird deutlich, dass die wesentliche Unruhe, die sie antreibt, ihre Ideologeme hervorruft und ihre kulturpessimistischen Deutungen vor allem ontologischer Natur sind. Es geht um nichts Geringeres als um das Sein der Fotografie. Alle weiteren Fragen sind nachgeordnet.

 

Um den hohen Einsatz dieses Diskurses deutlich zu machen, empfiehlt es sich, an Roland Barthes Theorem zu erinnern, nach dem die Fotografie eine Botschaft ohne Code, ein natürliches Zeichen sei. In dieser paradoxen Konstruktion ist die Fotografie eine Grenzfigur, die innerhalb sprachlicher Ordnungen nach deren Überschreitung und Suspendierung sucht beziehungsweise nach ihrer präsemiotischen Grundierung. Sie ist ein Zwitterwesen, da sie zwei widersprüchliche Botschaften trägt – eine codierte und somit auch decodierbare «Botschaft» sowie ein indexikalisch-analoges Haften des Referenten. Einerseits ist die Fotografie ganz Kultur, andererseits ganz Natur. Auf der einen Seite hat sie damit Anteil an der Kontingenz kultureller Zeichensysteme, aber auch an ihrer ideologischen Grundierung, auf der anderen Seite ist sie dem Reich der Notwendigkeit zugehörig und leistet damit das, was Siegfried Kracauer «die Errettung der äußeren Wirklichkeit» nannte [13]. Barthes tr.umt diesen Traum in etwas anderer Weise und treibt zugleich die Ontologie der Fotografie auf die Spitze. «Das photographische Paradox», so heißt es in seinem fast 20 Jahre vor Die helle Kammer (La chambre claire, 1980) entstandenen Aufsatz «Die photographische Botschaft» von 1961, «wäre dann die Koexistenz von zwei Botschaften, einer ohne Code (das wäre das photographische Analogon) und einer mit Code (das wäre die ‹Kunst› oder die Bearbeitung oder die ‹Schreibweise› oder die Rhetorik der Photographie).» [14] Diese zweifache Bestimmung macht die besondere Attraktivität und Verführungskraft der Fotografie aus, die, so wollen es die aufgeregten Debatten, mit Aufkommen der digitalen Fotografe obsolet geworden ist. Die Fotografie ist in diesen Deutungen das Versprechen des Realen, das mit Aufkommen der Digitalisierung aufgegeben worden wäre.

3. «Blade Runner 2049»: Im Reich der Zeichen navigieren

«Replikanten sind von der Tyrell Corporation biotechnisch entwickelte Menschen, für den Einsatz in fernen Welten. Ihre hochentwickelten Kräfte machten sie zu perfekten Sklaven. Nach einer Reihe brutaler Rebellionen wurde die Herstellung verboten und die Tyrell Coporation musste Konkurs anmelden.» Mit diesen eingeblendeten Sätzen beginnt der jüngste Blade Runner-Film. Mitte der 2020er Jahre kam es zu einem Kollaps der Ökosysteme. Niander Wallace, CEO der Wallace Corporation, erschuf die synthetische Landschaft und erzeugte «eine neue Generation von gehorsamen Replikanten.» Nexus 8 Modelle ohne Lebenszeitbegrenzung werden hingegen erneut gejagt und ‹in den Ruhestand gesetzt›. Einer dieser neuen Blade Runner ist der Agent mit dem kafkaesken Namen K, der im Zuge eines Auftrags auf etwas stößt, was der von ihm umgebrachte Replikant als «Wunder» bezeichnet: ein von einer Replikantin gezeugtes Kind [15]. Damit wäre, wie Ks Chefin philosophisch-martialisch betont, die Mauer eingerissen, die die Ordnung der Welt bildet. «Die Welt», so führt sie aus, «ist gebaut auf einer Mauer, die die Arten trennt. Wenn wir behaupten, es gibt keine Mauer, handeln wir uns einen Krieg ein oder ein Massaker.» K verfolgt die Spuren, entdeckt Fotos der Mutter, eine Babysocke, die wie ein Fetisch in einer Kyriazi-Zigarettenblechdose in einem Klavier versteckt ist, und begibt sich auf die Suche nach seiner eigenen Vergangenheit, da er annimmt, er könne das Kind oder zumindest dessen Zwilling sein. In einer DANN Datenbank hatte er jedenfalls identische – und somit für zwei Geschlechter unmögliche – Daten eines Jungen und eines Mädchens gefunden. Er setzt die Puzzleteile der Geschichte zusammen, stöbert Deckard in seinem Versteck im radioaktiv verseuchten Los Angeles auf und führt ihn am Ende des Films zu seiner Tochter, die aufgrund einer Autoimmunerkrankung durch eine Glaswand von der Umwelt abgeschirmt künstliche Erinnerungen erzeugt – die besten, wie es heißt.

 

Die Handlung des Films variiert in vieler Hinsicht die zentralen Fragen und auch Motive, die bereits der erste Film aufgeworfen hatte: die Interrogation der nun konsequent durchlässigen Grenze zwischen Natur und Technik, Wirklichkeit und Simulation, Mensch und Maschine sowie die Themen des eigentümlichen Okularzentrismus oder der Inszenierung von immer neuen Roboter-Typen. Klebt so etwa mit einer virtuell erzeugten Frau zusammen, die er mittels eines sogenannten «Emanator» materialisieren kann.

 

Extradiegetisch ist zu konstatieren, dass der Fotorealismus der postapokalyptischen Landschaften nun in nicht unerheblichen Teilen digital erzeugt wurde. Der Film produziert dabei in quasi jeder Einstellung extrem durchkomponierte Bilder. Auch Rachael feiert mehr oder weniger fröhlich ihre digitale Urständ, wie sie ohnehin eine Art Emblem des ganzen Films darstellt, der als Remake oder Sequel in gewisser Hinsicht ein Replikant des ersten Films ist [16]. Anders als der erste wird hingegen die Ambivalenz der Bilder eingetauscht gegen eine ebenso eigentümliche wie merkwürdige Suche nach Authentizität, die hier vor allem an die Frage der Herkunft geknüpft wird. Es scheint, als könne eine Genealogie im Sinne einer biologischen Herkunft die Rätsel auflösen und zugleich einen neuen Messias hervorbringen. Diese letztlich biologistische Logik führt auch dazu, dass der zweite Film ungleich weniger überzeugend ausfällt als der erste, verspricht er doch, die strukturelle Unentschiedenheit des Übergangs zwischen Mensch und Maschine, die für den ersten Blade Runner-Film konstitutiv ist, dann aufzulösen, wenn die Geschichte und mit ihr die genealogische Folge rekonstruiert werden können. Er gibt Eindeutigkeit vor, wo im ersten Teil noch die Ambivalenz regierte.

 

Gleichwohl haben die digitalen Bilder inzwischen Laufen gelernt und ihre Ästhetik ist zwischen Fotografie, Film und Computerspielen ebenso durchlässig geworden wie die Grenze zwischen Menschen und Replikanten in beiden Filmen, auch wenn der zweite dazu tendiert, die Unterscheidung wieder schärfer einzuziehen – was nicht zuletzt die Tatsache zeigt, dass Deckards existenzielle Unentschiedenheit hier nicht mehr zum Thema wird. Außerhalb des Films führt hingegen der transitorische Charakter digitaler Fotografien dazu, dass heute diverse Fotografen ihre Found-Footage-Verfahren nicht nur auf gefundene historische und zumeist analoge Bilder anwenden, sondern auch auf solche, die aus Google Earth oder eben Computerspielen stammen. Während bemerkenswerterweise frühe Beispiele der digitalen Fotografie nicht selten die Ästhetik des ersten Blade Runner aufnahmen und fortspannen, stehen nun nicht selten von Andreas Gursky bis Doug Rickard und Beate Gütschow digital erzeugte oder vorgefundene Bilder im Fokus des Interesses, die beanspruchen, Weltbilder zu sein oder zumindest als solche gelesen werden zu können.

 

Intradiegetisch ist der Film durchzogen von unterschiedlichen fotografischen Bildern und Verfahren, die geteilt sind durch das, was im Film als der große Breakdown bezeichnet wird: eine nicht näher bezeichnete Katastrophe mit einem kompletten Stromausfall, der zum Verlust allerweitester Teile der digitalen Archive führte. Man hatte, so berichtet es der Archivar, alles auf Festplatten gespeichert, um sogleich hinzuzufügen: «Meine Mama weint immer noch wegen der verlorenen Babybilder.» Auch das ist als zeitgenössischer Kommentar zu lesen, ist doch der fragile Status der digitalen Archive, auf die der Film anspielt, heute ein Problem von Sammlungen in Museen bis hin zu Künstlerarchiven.

 

Der Breakdown führt im Film zu zwei unterschiedlichen Haltungen hinsichtlich der verfügbaren Fotografien und ihrer Verwendung. Die Bilder davor sind ein melancholischer Restbestand einer weitgehend verschwundenen Zeitschicht und Kultur, die dennoch – als Fetisch oder Reliquie – in die Gegenwart hineinragt. Die fotografischen Bilder der Gegenwart des Jahres 2049 hingegen sind verfügbare, omnipräsente und vertraute Tools, die von dem fliegenden Peugeot-Fahrzeug mit seinen Anzeigen über die CCTV-Anlagen und den gigantischen Leuchtreklamen bis hin zu den Datenbanken Zugriff auf die Gegenwart haben. Die Bilddatenbanken mit der Liste der aufzufindenden Replikanten folgen dabei immer noch dem System der Bertillonage mit Bildern ‹en face et en profil›, während das gigantische Firmenarchiv und das Geburtenregister numerische Daten und Bilddaten munter kombinieren. Vorgestellt wird eine Welt, in der Vernetzung, Überwachung und Konsum über Bilder regiert und prozessiert werden. K lässt etwa das Anwesen des von ihm getöteten Replikanten mit dem an das Programm gerichteten Befehl «Alles hier fotografieren» komplett aufnehmen und sendet die Daten sogleich an das Headquarter. Die Kamera, die in seinem Fahrzeug eingebaut ist, detektiert rasch eine im Boden vergrabene Kiste, in der sich das Skelett einer Frau findet. Dieses wird dann seziert, wobei die Untersuchung der Bildanalyse Deckards aus dem ersten Teil entspricht. Über Bildvergrößerungen entdeckt K eine Seriennummer und findet so heraus, dass die Frau, die bei der Geburt starb, eine Replikantin war. Dieses unerhörte Ereignis verbindet fortan die beiden Bildregime: Dem gouvernementalen Regime der Bilder, das bis hinein in das intime Privatleben des Protagonisten reicht, steht von nun an der fotografische Altbestand gegenüber, der zu einer Suche nach authentischen Bildern führt. «Wir alle suchen nach etwas Echtem», lautet die Formel des Films, die diese Suche auf eine griffige Formel bringt und im übrigen zu jener bereits angesprochenen problematischen biologistischen Antwort führt.

 

Die Bilder und Fotografien verwandeln sich hingegen in Fetische und Reliquien und bleiben ambivalent. Sie werden je nach Deutungsperspektive zu etwas anderem. Das Bild als Fetisch lebt von seiner Besetzung, von der Zuschreibung, die ihm widerfährt. So ist etwa das Holzpferd, das vermeintlich die erste Erinnerung des Protagonisten ist, vielerlei: Für ihn ist es das Versprechen, etwas Besonderes zu sein. Sollte seine Erinnerung authentisch sein, so wäre er der Erstgeborene, der Erwählte, der die Grenze zwischen Mensch und Maschine überschritten hätte. Für den afrikanischen Händler, der es untersucht, um herauszufinden, woher es stammt, ist es hingegen eine besondere Ware, da echtes Holz nicht mehr verfügbar ist. Und für Deckards Tochter ist es schließlich ein Gegenstand, der einer echten Erinnerung entspricht. Sie schaut es nicht einmal an, sondern blickt in eine Art Mikroskop, während K den Film seiner Erinnerungen ablaufen lässt. Und ironischerweise ist sie es, die die allerbesten Erinnerungsbilder zu produzieren versteht.

 

Ähnliches gilt für das Foto der Mutter, die im Film mythisch überhöht wird: «Ein Kind wird uns geboren», heißt es an einer Stelle, und «Gott gedachte aber an Rachael und erhörte sie und machte sie fruchtbar», an einer anderen. Ein jeder liest das Foto anders: Für die L.A. Police ist es ein Beweisstück, ein Indiz, für Deckard eine glückliche und zugleich schmerzhafte Erinnerung, für K ein Versprechen und für eine Gruppe von Replikanten, die eine Revolution planen, ein Manifest. Diese Liste ließe sich fortsetzen.

 

Was ist nun aber in den 30 Jahren, die zwischen den beiden Filmen liegen, mit der Fotografie geschehen? Was ist ihr widerfahren? Nicht viel. Aber: Die Grenze zwischen Fetisch und Funktion, zwischen Authentizität und Simulation, zwischen Gedächtnis und Gegenwart wird durchlässig. Und vor allem kommt es darauf an, was man mit den Bildern macht, welche Bedeutung man ihnen zuschreibt und wie man sie verwendet. Die Frage der Ontologie der Fotografie ist zugunsten einer Praxeologie verschwunden. Und doch ist die Fotografie ein merkwürdig erratisches Zeichen. Die Selbstverständlichkeit, mit der K durch Datenbanken navigiert, steht dem Rätselcharakter der älteren Bilder gegenüber. Die Fotografie erzeugt und destabilisiert Identitäten; sie ist eine Instanz des Transitorischen, des Übergangs von einer Ordnung zu einer anderen. Man sollte ihr nicht allzu sehr vertrauen und tut es doch. Sie ist ein Versprechen des Wirklichen und dessen Entzug und Dementi zugleich. Und sie produziert zudem religiöse Bilder, Mythologeme und Phantasien einer anderen Ordnung der Dinge und der Gesellschaft durch die bloße Macht der Abbildung.

4. Nach dem Digital Turn

Es wäre vermessen – und würde auch die Filme etwas überstrapazieren –, aus diesen beiden knappen Interpretationen eine Bestandsaufnahme der Fotografie heute abzuleiten oder sogar eine umfassende Deutung des digital turn vorzunehmen. Gleichwohl bietet es sich an, zumindest einige wenige Thesen zu formulieren.

 

Erste These: An die Stelle einer Ontologie der Fotografie sollte eine Praxeologie treten

 

Als die Digitalisierung Einzug in das Reich der Fotografie hielt und das Ende des fotografischen Zeitalters verkündet wurde, war es ihr dokumentarischer Charakter, ihre ‹Ontologie› als chemisch-physikalisches Zeichen, die mit einem Mal ihre Überzeugungskraft verlor. Doch auch wenn der Stachel des digitalen Zweifels tief im Fleisch der fotografischen Authentizität und Evidenz zu sitzen scheint, haben sich viele ihrer Aufgaben und Gebrauchsweisen kaum verändert. Wenn wir ein Fotoalbum mit digital erstellten Bildern betrachten, mit einem Arzt die Röntgenbilder des gebrochenen Fußes in Augenschein nehmen oder das Zielfoto des 100-Meter-Finales der Olympischen Spiele anschauen, ist unser Vertrauen in die Fotografie ungebrochen. Ob diese nun digital oder analog entstanden ist, spielt keine Rolle, wenn wir der Gebrauchsweise der Bilder vertrauen, genauer: ihnen durch diese ihre Überzeugungskraft zuweisen. Oder anders formuliert: An der Authentizität ‹der› Fotografie hegen wir Zweifel, aber einige ihrer Gebrauchsweisen dienen nach wie vor gerade dazu, Zweifel zu zerstreuen und Evidenz zu erzeugen. Die einseitige Fokussierung auf das Dokumentarische hat den Blick dafür verstellt, dass die Fotografie seit jeher vor allem eines ist: Praxis. Sie ist ein Medium, das über ihre Gebrauchsweisen zu erschließen ist und sich dabei als überaus versatil, vielseitig und fast universal einsetzbar erwiesen hat. Unser Bild der Fotografie konfiguriert sich neu, wenn wir sie von dieser Warte aus betrachten. Die beiden Blade Runner-Filme eröffnen ein ganzes Panorama solcher fotografischen Praktiken und machen aus der Fotografie vor allem eines: ein Medium der Selbststimmung des Menschen.

 

Zweite These: Die Indexikalität der Fotografie ist keineswegs verschwunden, sondern hat sich nur verändert

 

Im ersten Blade Runner-Film gibt es eine Szene, die bemerkenswert ist. Als Deckard das Bild umdreht, das Rachael mit ihrer Mutter zeigt, so zeigt sich dort kein weiteres Bild, sondern vielmehr Schrift: eine Beschriftung des Bildes, die es vermeintlich einer Zeitstelle zuweist. Bei genauerem Hinsehen gilt das heute auch für digitale Fotografien, da diese mit sogenannten Metadaten versehen sind, die Aufschluss darüber geben, wann und mit welcher Kamera das Bild aufgenommen wurde, welche Brennweite verwendet wurde und, wenn die Kamera mit dem GPS-System verbunden ist, wo genau die Aufnahme entstanden ist. Weiterhin existiert mittlerweile eine Form der ‹konnektiven Zeugenschaft›, bei der zahlreiche Bilder miteinander verglichen werden, um Bildinformationen zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Und es ist zu ergänzen, dass die Informationen, die diese Metadaten bereitstellen, für multinationale Konzerne wie für die NSA ungleich interessanter sind als das Dargestellte. Die Indizes der Fotografie sind in komplexer Weise zu Informationen geworden und die Fotografie auch in anderer Hinsicht zu einer gesellschaftlichen Praxis. Blade Runner buchstabiert diese Ambivalenz zwischen Identitätskonstruktionen über Bilder und Erinnerungen einerseits und der Preisgabe von Informationen andererseits hinlänglich deutlich aus. Fotografien sind so oder so Medien der Verortung.

 

Dritte These: Fotografien sind Teil einer gouvernementalen Praxis

 

Insbesondere der zweite Blade Runner-Film macht deutlich, dass Fotografien immer Teil einer gesellschaftlichen Praxis sind, die Normen prozessiert. Wenn K Tatortfotos erstellt, auf die Datenbank der gesuchten Replikanten oder der DNA-Einträge der Neugeborenen zurückgreift, so geschieht dies im Rahmen von Voreinstellungen, die Bilder in Informationen verwandeln. Eine jede Plattform im Netz funktioniert heute in ähnlicher Weise. Eine Maske gibt die Regeln vor, nach denen die Bilder einzustellen sind. Und innerhalb der unterschiedlichen Plattformen gilt ähnliches auch für die unterschiedlichen Communitys, die sich dann konstituieren. Will man Teil einer Gruppe sein, so hat man deren Regeln zu befolgen. In diesem Sinne kann man von einer «normativen Handlungsmacht (Agency) der Sozialen Medien» [17], aber auch der Fotografie insgesamt sprechen.

 

Vierte These: Ein Bild ist nie fertig und seine Geschichte virtuell unabschließbar

 

Diese These hat zwei Komponenten: Auf der einen Seite sind digital erstellte Fotografien strukturell offen für spätere Veränderungen, auf der anderen ist ihre Geschichte auch im Moment der Veröffentlichung einer vermeintlich definitiven Version nicht abgeschlossen, da ein und dasselbe Foto in unterschiedlichen Kontexten erscheinen kann und mitunter auch verändert wird. Das Bild der Mutter, das im zweiten Blade Runner-Film zirkuliert, macht das hinlänglich deutlich.

 

Fünfte These: Fotografien zielen nicht auf Feststellungen, sondern auf Transformationen ab

 

Die beiden Blade Runner-Filme machen letzten Endes vielleicht vor allem eines deutlich: Fotografien sind keine Feststellungen, sondern Transformationen, Medien des Übergangs. Selbst wenn ihnen – und das in eigentümlich privilegierter Weise – zugeschrieben wird, im Herzen der ‹Suche nach etwas Echtem› zu stehen, so ist das vor allem Effekt einer eigentümlichen kulturellen, individuellen wie gesellschaftlichen Praxis, die fortwährend zwischen Stabilisierung und Versicherung einerseits und Destabilisierung und Verunsicherung andererseits oszilliert. Und vielleicht ist das der Effekt des digital turn: Bilder hervorgebracht zu haben, die in vieler Hinsicht selbstbestimmend sind. Fotografien sind – und auch das ist eine Lehre der Blade Runner-Filme – Reflexionsmedien, bei denen es nicht mehr und nicht weniger um unsere Existenz geht. Sie stellen unser Selbstverhältnis und das zu unserer Wirklichkeit aus – und diese sind durch und durch historisch, auf die jeweilige Gegenwart bezogen und haben die Unterscheidung zwischen analog und digital ebenso hinter sich gelassen wie zwischen Natur und Kultur oder Menschen und Dingen. Wir stehen nicht am Ende oder sogar jenseits des Endes des fotografischen Zeitalters, sondern vielmehr am Anfang eines Verständnisses der Fotografie, das diese und mit ihr die Wirklichkeit als einen Raum der Transformation begreift.

 

  1. Vgl. Hubertus von Amelunxen, Stefan Iglhaut und Florian Rötzer (Hg.): Fotografie nach der Fotografie, Dresden: Verlag der Kunst 1995, und Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002.
  2. Vgl. dazu die «Ultimate Edition», die 2007 mit 5 DVDs erschienen ist und alle Fassungen dokumentiert. Informationen finden sich auch im beiliegenden Booklet. Vgl. auch die Rezension https://www.dvd-forum.at/review/3303-dvdblade-runn... (zuletzt eingesehen am 09.02.2019).
  3. Vgl. etwa den frühen Text zur Erfindung der Daguerreotypie, «Der Daguerrotyp», in: Kunstblatt (Beilage zum Morgenblatt für gebildete Stände), No. 77 (24.9.1839), S. 305–308, hier S. 306.
  4. Vgl. hierzu Walter Benjamin: «Kleine Geschichte der Photographie [1931]», in: ders.: Medienäthetische Schriften, mit einem Nachwort von Detlev Schöttker, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 300–324.
  5. Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen: European Photography 1983, S. 19. Vgl. auch S. 73f.
  6. Ebd., S. 18.
  7. Ebd.
  8. Diese Annahme teilt er mit Jean Baudrillard. Vgl. etwa seinen Aufsatz «Videowelt und fraktales Subjekt», in: Jean Baudrillard , Hannes Böhringer, Vilém Flusser, Friedrich Kittler, Heinz von Foerster und Peter Weibel: Philosophien der neuen Technologie, hrsg. v. Ars Electronica, Berlin: Merve 1989, S. 113–131, bes. S. 122–125.
  9. So der Untertitel («Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters») der beiden von Herta Wolf zur Theorie der Fotografie herausgegebenen Bände Paradigma Fotografie (siehe Anm. 1) und Diskurse der Fotografie (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003).
  10. William J. Mitchell: The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-photographic Era, Cambdridge, Mass.: MIT Press 1998 (1992), S. 225.
  11. Peter Lunenfeld: «Digitale Fotografie. Das dubitative Bild», in: Wolf 2002 (wie Anm. 1), S. 158–177.
  12. Mitchell 1998 (wie Anm. 10), S. 99; zit. nach: Winfried Gerling, Susanne Holschbach und Petra Löffler: Bilder verteilen. Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur, Bielefeld: transcript 2018, S. 12.
  13. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964.
  14. Roland Barthes: «Die Photographie als Botschaft», in: Peter Geimer und Bernd Stiegler (Hg.): Auge in Auge. Kleine Schriften zur Photographie, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 77–92, S. 81.
  15. Im Film spielt ansonsten Vladimir Nabokovs Roman Pale Fire (1962) eine entscheidende Rolle. Er wird nicht nur gelesen, sondern Textbestandteile dienen zur Überprüfung der sogenannten Basiswerte der Replikanten.
  16. Diese Beobachtung verdanke ich Maurice Batras, dem ich für seine Kommentare herzlich danke.
  17. Gerling, Holschbach und Löffler 2018 (wie Anm. 12), S. 79.

 

Autor

Prof. Dr. Bernd Stiegler, Professor für Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts im medialen Kontext, Universität Konstanz, Fachbereich Literaturwissenschaft, Fach D 156, 78457 Konstanz, Germany, Tel. +49-7531-882445, bernd.stiegler@uni-konstanz.de