„Ich will eure Leidenschaft spüren!“
Von Michael Pfister

Juli 2020

Die Leidenschaft für Fotografie in bewegt, bewegenden Zeiten, 24/7

Eine persönliche Annäherung von Michael Pfister, Director of Photography, ZEIT ONLINE, Berlin

 

Damals in Bern hegte ich den Wunsch, Journalist zur werden. Ich meldete mich gleich bei der Neuen Zürcher Zeitung. Der Redaktor am Telefon meinte, ich würde noch ein wenig Zeit benötigen, ich solle mich doch nach dem Abschluss des zweiten Studiums wieder melden. Da war ich 15 Jahre jung, hungrig und mit ambitioniertem Ziel, Qualitätsjournalismus produzieren zu wollen. 25 Jahre später leite ich als Journalist, Ressortleiter, Director of Photography von Zeit Online in Berlin ein Team von 10 Fotoredakteuren, stimme die wichtigen Geschichten mit der Chefredaktion und 12 Ressortleitern ab, beauftrage Fotojournalisten weltweit und konzipiere Fotokonzepte. Die Bildsprache ist für eine Nachrichtenwebsite die DNA des visuellen Erscheinungsbildes. Als Foto-Experte, Fotoliebhaber, Fotograf, Vermittler der visuellen Kunst ist die Arbeit im Newsroom eines Online-Mediums eine Herausforderung, welche viel Expertise in Workflows, politischen Zusammenhängen, Mediendynamik und journalistischem Gespür voraussetzt. Als Fotochef arbeite ich nicht auf den einen Redaktionsschluss hin, vielmehr beschäftige mich in einem hoch technologisierten Umfeld jeden Tag, jede Stunde mit der einen zentralen Frage: Welches ist für mich das richtige Foto für diese Geschichte, diesen Essay?

Als visueller Journalist beschäftige ich mich beinahe ausschliesslich mit Fotografie, editiere, wähle final aus und publiziere das Bild selbst im Redaktionssystem. Fragen der Form und Farbe definiere ich, um der Fotografie eine optimale Bühne zu bieten. Mit dem Art Director und den Entwicklern zusammen erarbeitete ich neue Layouts für Sonderprojekte, die der Fotografie und dem Storytelling auf Zeit Online noch mehr Kraft verleihen. Fotografie, "Schönheit ist verwirrend, gewalttätig, sanft, vulgär"

Die Titelseite von Zeit Online setzt meist sechs Seiten pro Tag um, mit neuen wichtigen Kommentaren, Analysen, Hintergrundreportagen, Interviews, welche mehr als 1 Stunde lang die Startseite und den Nachrichtenstrom aus der Hauptstadt mitbestimmen. Im Online-Newsroom arbeiten mit mir 130 weitere Kolleginnen und Kollegen: Redakteure, Autoren, Data Scientists, Entwickler, Art Directors, Storytelling-Illustratoren, SEO-Experten, Konversion-Manager, Podcast-Produzenten etc.

Die Arbeit in dieser Redaktion mit ihrer Start-Up-Atmosphäre unterscheidet sich von herkömmlichen Print-Redaktionen. Neue Möglichkeiten verändern die Rahmen-Bedingungen: Die meisten Kolleginnen und Kollegen sind jung und sehr motiviert, auch nach 17 Uhr. Fussball-Kicker, Tischtennisplatte und Podcast-Studio - die Redaktion ist fluid, so dass ich auch Pop-Up Fotostudios aufsetzten kann, um aufwändige Portrait-Shootings für wichtige Geschichten im Mutterblatt DIE ZEIT zu produzieren und nicht wertvolle Zeit in einem angemieteten Studio zu verlieren. Agiles Projektmanagement habe ich in meinen bisherigen Jobs im Kulturmanagement von der Pike auf gelernt und dann im neuen Setting der Onlineredaktion adaptiert und angewendet. Der Workload ist sehr hoch; Die Aufgaben von Redaktions-Assistenzen, wie man sie von Vollredaktion her kennt, übernehme ich in der Online-Redaktion als Ressortleiter zusätzlich. Da bleibt dann weniger Zeit für Journalismus. Neben der journalistischen Arbeit liegt bei einem 24/7-Schichtbetrieb an 365 Tagen pro Jahr einiges an Organisation an: Dienstplanung oder Weiterbildung zum Beispiel, dann müssen rechtliche Fragen mit dem Anwalt in Hamburg rückbesprochen werden, um in einem frühen Stadium Klagen von amerikanischen Anwälten abzuwenden. 

Ich mache das gerne an einem Beispiel anschaulich: Donnerstag später Nachmittag - die Agenturen melden den Tod des Schweizer Ausnahmekünstler und Fotografen Robert Frank. Die Nachricht macht mich einen Moment atemlos. Fotograf Frank hat mich als visueller Journalist geprägt, seine Arbeit habe ich vor 25 Jahren studiert und sie hat unter anderen Einflüssen dazu geführt, dass ich heute an diesem Punkt hier stehe, in Berlin im Newsroom. Mit 23 Jahren habe ich die Schweiz verlassen, obwohl ich in Zürich eine feste Anstellung hatte. Doch ich wollte international arbeiten und migrierte deshalb nach Berlin. Die Stadt war für mich Sehnsuchtsort – ein Epizentrum der Kreativen, Alternativen, Visionären.

Zurück zu der Situation damals im Newsroom – es war September 2019 –, ich überlegte kurz und griff instinktiv zum Telefon und rief Peter Pfrunder, den Direktor der Fotostiftung Schweiz in Winterthur, an. In einem kurzen Gespräch versuchte ich ihn zu überreden, zeitnah einen Nachruf für Zeit Online zu Leben und Wirken des Ausnahmefotografen Robert Frank zu schreiben. Schnell war klar, dass er diese Herausforderung nicht antreten konnte, das Zeitfenster war einfach zu knapp. Ich akzeptierte das und besprach gleich mögliche weitere Autoren mit ihm – Urs Stahel und Martin Gasser.

Martin Gasser weilte in Berlin und war mit der Finalisierung der Retrospektive von Robert Frank beschäftigt. Auf meinem Nachhauseweg bin ich in der Berliner Fotoinstitution C/O Berlin vorbeigefahren und hoffte auf eine zufällige Begegnung mit dem Schweizer Kurator. Als ehemaliger Reporter glaubte ich an das Glück des Augenblicks. Doch ich weilte ein paar Minuten zu lange im Newsroom am Askanischen Platz in Kreuzberg, unweit des Potsdamer Platzes, und traf ein paar Minuten zu spät im Amerikahaus am Bahnhof Zoo ein. Kurator Gasser war schon auf dem Weg ins Radiostudio, um ein Interview zu geben. Ich verabschiedete mich in den Feierabend, doch die Fotos von Robert Frank waren schwebten noch immer ohne textlichen Nachruf im Raum.  

Während ich im Wohnzimmer auf dem Sofa sass, bat die für mich beste Tageszeitung der Welt in New York Times neun Fotografen, über Frank und die Fotografie nachzudenken. Das ist auch eine Herangehensweise, eine smarte, wie ich finde. Am folgenden Tag ärgerte ich mich, dass ich keine hochkarätige Person gefunden hatte, einen klugen Nachruf für Zeit Online zu schreiben, und ich nahm mir vor, nächstes Mal die Ruhe zu finden, den Nachruf gleich selbst zu schreiben.

Ein paar Splitter aus meiner Gedanken- und Erfahrungswelt:

  • FotografInnen und visuelle JournalistInnen nutzen Komposition, Licht, Schatten und bitten mit ihrem Werk um unsere Aufmerksamkeit - doch schlussendlich sind wir als Betrachter mit dem Sehen beschäftigt.
  • Journalismus ist heute eine Herausforderung - viele JournalistInnen sind mediale Dienstleister und Nachrichtenhersteller. Einige wenige wie Autorin Eliza Griswold, Reporter Jon Lee Anderson, die deutsche Publizistin Carolin Emcke, der Filmemacher Jon Lowenstein, steuern ihre Fertigkeiten und Kompetenzen in die richtigen Bahnen und erschaffen eine Kulturleistung, die zuerst in Magazinen wie dem New Yorker oder dem New York Times Magazine und danach in Büchern publiziert werden. Joan Didion ebenso wie James Nachtwey und Teju Cole – in Wort und Bild. Das ist verbunden mit der mühsamen Eroberung von Arbeitsbedingungen jenseits der harten Imperative der Tagesaktualität. Über die Jahre haben sie langsam ein eigenständiges Profil entwickelt.
  • Ich bin der festen Überzeugung, dass visuelle Journalisten sich mehr mit Texten auseinandersetzen sollten und Texter mehr mit visuellen Medien. Journalismus muss heute jeden Tag neu verhandelt werden. Bewusst gewählte Bilder mit klugen Texten und nicht Text gegen Bild. Hochwertiger Qualitätsjournalismus verbindet sinnvoll beide Medien miteinander und kreiert Klarheit. 
  • Die Arbeit des Journalisten und Fotografen James Nachtwey hat mich während meines Studium geprägt. Seine Themen von Vertreibung, Migration, Verlust, Hunger, Trauer und Trauma haben mich verstört. Seine Arbeit hat oft mehr Fragen gestellt als Antworten geliefert. Als ich dann den Kriegsfotografen Nachtwey im Militärmuseum Dresden in Person getroffen habe fragte ich ihn, wie er Frieden findet, während er über den Krieg berichtet. Er blieb mir eine Antwort schuldig und finalisierte die Hängung seiner Ausstellung „Krieg“.
  • Fotografie ist laut und direkt, Bilder sind leise und kraftvoll und im Besten fall lösen sie beim Betrachter Emotionen aus. Wir leben in einer visuellen Gesellschaft. Morgens erwachen wir, betrachten auf unserem Smartphone erste Bilder, den ganzen Tag über sehen wir Hunderte von Bildern, unbewusst und bewusst. Welche Bilder lesen wir und welche sprechen uns wirklich an? Als visueller Journalist versuche ich Fotografie zu vermitteln, in unterschiedlichen Formen und auf unterschiedlichen Plattformen: mit subjektiven Portraits, berührenden Reportage-Fotos, mit düsteren, verstörend direkten Bildern, oder mit zeitgenössisch ästhetischen Bildern.
  • Sehen, lesen, schreiben, Interviews führen: Der Zufall führte dazu, dass der deutsche Photojournalist Daniel Etter für die New York Times unterwegs war und mit seiner Arbeit 2016 mit dem Pulitzerpreis in der Kategorie Fotografie ausgezeichnet wurde. Ich meldete mich kurz bei Ihm und einige Stunden später führte ich ein Interview. Am Morgen danach publizierte ich das Interview auf ZEIT ONLINE, wählte das Gewinnerfoto aus und hatte volle Kontrolle über meine Autorenschaft.
    Interview mit Daniel Etter hier.
  • Ikonische Fotografien, Jubiläen, Fall der Mauer: Zum 30. Jahrestag der Fall der Mauer in Berlin führte ich ein Interview mit einem Fotojournalisten, welcher vor drei Jahrzehnten ikonische Bilder geschaffen hat. Der Brite Tom Stoddart empfing mich im Hulton Archive von Getty Images in London. Er hat seine Farb-Dias mitgebracht, und wir haben über seine Arbeit, seine Motivation und seine Lehren daraus gesprochen.
    Interview mit Tom Stoddart hier.
  • Ich habe mir in den vergangenen Jahren Arbeitsbedingungen erobert und habe mich für meine Autoren-Interviews und Sonderprojekte eingesetzt. Immer den News-Strom im Nacken. Das auszuhalten gehört mit zum Job.
  • Im vergangenen Herbst reiste Fotograf Christoph Bangert mit 35 angehenden FotojournalistInnen der Fotobus-Society für einen Workshop nach Berlin zu Zeit Online. Nach der Begrüssung habe ich eine sehr persönliche Botschaft an sie gerichtet: „Sucht euch einen Job, in einer Bar oder in einem Callcenter, zahlt eure Krankenversicherung und eure Miete. Geht raus auf die Strasse, mit offenen Augen, trefft Menschen ausserhalb eurer Blase, fängt Geschichten mit eurer Kamera ein. Praktiziert Fotografie, ordnet sie und dann kommt ihr wieder zu mir mit eurem Portfolio. Ich will eure Leidenschaft spüren!“

Fotograf und Dozent Christoph Bangert mit seiner Fotobus Society zu Besuch bei Zeit Online. Credit: Michael Pfister

 
1 / 7

Hong Konger Friedensaktivist Joshua Wong Shooting auf dem Dach des Tempodrom Berlin, inszeniert von World Press Photo Gewinner Meiko Herrmann. Credit: Michael Pfister

 

 

 
2 / 7

Zwischen Tischtennisplatte und Trampolin: Pop-Up Fotostudio bei Zeit Online. Credit: Michael Pfister

 
3 / 7

Frontline: Als Fotojournalist auf dem SPD-Parteitag – Juso-Hoffnung Kevin Kühnert einfangen. Credit: Michael Pfister

 
4 / 7

Zusammen mit Artdirektor Christoph Rauscher begutachten eines Fotografen-Portfolios. Credit: Michael Pfister

 
5 / 7

Still-Life für einen Beitrag zur Frontline-Fotoberichterstattung in Syrien. Credit: Michael Pfister

 
6 / 7

Im Element: Michael Pfister beim Vermitteln von Fotografie bei der ZEIT University. Credit: Michael Pfister 

 
7 / 7

Michael Pfister, geboren 1979 in Bern, setzt sich leidenschaftlich mit Fotografie auseinander: als Director of Photography, Fotokurator, Dozent und Fotograf. Er lebt seit 20 Jahren in Berlin. Seine Laufbahn begann als Reporter für das Schweizer Radio DRS und Printmedien. Später initiierte und produzierte er Multimedia-Projekte, Diskussionsrunden, Festivals und Konferenzen und arbeitete als Kulturmanager für British Council, Swiss Arts Council und Swiss Music Export im In- und Ausland. Am Schweizer Medienausbildungszentrum MAZ in Luzern studierte er mit Fachrichtung Bildredakteur und ging als Fotoredakteur zum Ringier Verlag, dann nach Deutschland zur Foto- und Reportage Agentur laif in Köln. Hier arbeitete er mit Pulitzer-Preisträgern und World Press Photo Gewinnern sowie Reportage-und Portrait-Agenturen weltweit zusammen. Als Fotoredakteur bei der Bild am Sonntag im Axel Springer Verlag beauftragte er vier Jahre lang Fotografen und Reporter in der ganzen Welt. Als Experte im Bereich Foto- und Reportage-Journalismus trainierte er bei Workshops in Kairo, Ägypten, Hamburg, Berlin und Luzern Fotografen und Nachwuchsjournalisten. Als Initiator und Moderator von Gesprächsrunden, u.a. im Rahmen des internationalen Literaturfestivals in Berlin, forciert er eine nuanciertere Diskussion über Fotojournalismus und Menschenrechte in Konfliktsituationen. Für die Fototriennale 2015 in den Hamburger Deichtorhallen kuratierte er eine Ausstellung zur Zukunft der Fotografie. Er ist Mitglied der Bundespressekonferenz, von Reporter ohne Grenzen, PEN (Poets, Essayists, Novelists) und Spectrum.