Mai 2018
Die letzten vier, fünf Jahrzehnte ist an vielen Orten dafür gekämpft worden und seit einer Weile sind wir nun soweit, dass wir festhalten können: Ja, Fotografie ist Kunst. Ja, Fotografie gehört auch ins Museum. Ja, Fotografie kann ein autonomes Bild sein und nicht nur die Form eines Abbildes der Realität. Das Ziel ist also erreicht, könnte man meinen. Doch nun kehrt sich die Frage plötzlich um, und muss möglicherweise anders gestellt werden. Vielleicht so: Ja, Fotografie kann Kunst sein. Aber ist sie nicht weit mehr? Sind nicht 99 Prozent der fotografischen Produktion und 99 Prozent der fotografischen Achive in keiner (oder nur in beschränkter) Weise mit den Kriterien von Kunst in Verbindung zu bringen? Und gleichwohl sind diese 99 Prozent höchst erstaunliche, eminent wichtige visuelle Erzeugnisse der Menschheit, die es, zumindest teilweise, wert sind betrachtet, gesammelt, archiviert und diskutiert zu werden? Ja, sind in diesen 99 Prozent nicht vielleicht gar die wichtigeren visuellen Zeugnisse der Menschheit und ihrer Geschichte enthalten? Sind die 99 Prozent nicht quasi die visuelle Soziologie der Menschen in all ihren Tätigkeiten, ihrem Schaffen, ihrem Handeln, ihrer Ereignisse, der privaten und der öffentlichen, der kleinen oder grossen?
Von solchen Fotografien sollen seit 2012 jedes Jahr mehr geknipst oder geklickt worden sein, als in der gesamten Fotogeschichte, also die letzten rund 170 Jahre zusammengezählt. Eine fast unvorstellbare Masse von technisch erzeugten Bildern, Milliarden, Billionen, Trillionen, die geschossen, gefiltert, hochgeladen, geliked, geteilt oder deleted werden, auf den Social-Media-Kanälen verbreitet, in einer unglaublichen Geschwindigkeit, meist wortlos oder nur mit einer Zeile Text, mit einer kleinen Legende versehen. Jugendliche sollen heute schon 50 Prozent ihrer Kommunikation mit Bildern leisten, heisst es in Studien, die sie auf WhatsApp, Snapchat, Facebook, Instagram etc. verschicken. Bilder, besonders elektronisch erstellte und verbreitete Bilder, werden gerade eben zu einer neuen Form von Volkssprache. Umberto Eco sprach vor zwei Jahrzehnten schon, dass wir in ein neues emblematisches Zeitalter eintreten werden, mit einer Kommunikation mittels Fotografien, mittels elektronisch erzeugten Bildern, mit nur einer oder zwei Zeilen Text darunter, wenn überhaupt. Jetzt sind wir definitiv mitten drin. Und die Antwort auf die Fotografien: ein Emoji oder zwei, drei oder zehn und mehr, als auch ein Bild, ein Zeichen zumindest.
Was bedeutet das für die Fotografie? Was bedeutet das für uns, für unsere Kommunikation, für unser Verständnis der Welt? Bilder sind, wie die Semiotiker uns sagen, schwach codiert, und entsprechend nicht so einfach «dingfest» zu machen, das heisst nicht so einfach zu verstehen, und umgekehrt sind sie auch kaum falsifizierbar. Sie sind offen, vieldeutig, gleichzeitig aber oft irritierend präsent, kraftvoll, beeinflussend. Sie wirken auf uns ein, erfreuen oder verwirren manchmal unsere Sinne und den Verstand. Gleichzeitig weiss die Werbung präzise, dass mit intensiver Wiederholung von gleichen, bestimmten Bildern unsere Wahrnehmung beeinflusst und unsere Urteilskraft allmählich getrübt werden kann. Wir vertrauen da offenbar in etwas, das wir gar nicht so genau kennen, dass aber unbewusst sehr tiefen und anhaltenden Einfluss auf uns nehmen kann.
Bevor uns diese Menge an Bildern hilflos und die darin transportierten offenen Bedeutungsfelder wirr und «sprachlos» machen, bevor die Bildschwaden wie Aerosole unsere Sinneswahrnehmung und Verstandesleistung verstopfen und unsere Fähigkeit, wichtige und unwichtige, tiefe und oberflächliche, richtige und falsche, irreführende Bilder nicht mehr unterscheiden können, sollten wir uns darüber unterhalten, wie wir mit dieser neuen Situation umgehen sollen. Mit den grundlegenden Fragen zu Beginn, wie wir denn Fotografie verstehen, was denn eine Fotografie ist, wie sie funktioniert, wie sie wirkt, was sie mit sich selbst und mit uns tut und was wir mit ihr alles imstande sind zu tun.
Bilder schaffen durch ihr Bild die Welt, an die wir uns erinnern wollen und werden. Die Fotografie, auch diese 99 Prozent, diese sogenannt abbildende, berichtende, wiedergebende Fotografie erzählt und dokumentiert nicht nur, wie wir wissen, sie generiert gleichsam die Vorstellung unserer Welt. Sie prägt unsere zukünftigen Bildwelten, mehr noch unsere Weltbilder und damit auch unsere Handlungsweisen mit. Das ist seit Beginn der Fotografie so, weil die präzise, das heisst die optisch-physikalisch-chemische Wiedergabe der Wirklichkeit, der Dinge, der materiellen Welt gleichsam mit erhöhter Glaubwürdigkeit ausgestattet worden ist, in dieser, seit dem 19. Jahrhundert, «gottlos» werdenden Welt. Diese Dingbilder versprechen Halt, generieren eine diesseitige positive visuelle Ordnung der Wirklichkeit. Und besonders heute ist es eine starke Realität, seit wir in ein neues, visuelles, vernetztes Zeitalter eingetreten sind. Wir erleben alle im Alltag, im Beruf, in den Medien, im Internet, wie massiv das Bild das Wort ergänzt, bedrängt und zuweilen ersetzt.
Erstaunlicherweise werden Bilder und ihre Wirkungsweisen aber bislang nur wenig reflektiert, zumindest nicht in ausreichender Tiefe und struktureller Grundsätzlichkeit. Ebenso findet kaum eine Erziehung zum Bild, zum Bildverständnis, zur Bildsprache, zum beschreibenden (denotativen) und eindringenden, einwirkenden (konnotativen) Einfluss, zur Kommunikation und Manipulation mit Bildern statt, schon gar nicht (meines Wissens) in der Primarschule, in der Sekundarschule, im Gymnasium, abgesehen von raren, wichtigen Ausnahmen. Wir stehen vor der Situation, dass wir alle visuelle Konsumenten, aber letztlich doch Analphabeten des Bildes sind. Wir brauchen also, so meine Überzeugung, dringend für die Welt von heute und morgen mehr Bildkompetenz!
Wir wissen, dass die Schulen mit der Digitalisierung, mit zahlreichen Restrukturierungen, mit neuen Bildungs- und Berufszielen stark gefordert, ja überfordert sind. In einem einmaligen Joint Venture zwischen Erziehung, Bildung und Kultur könnten die verschiedenen Fotomuseen, Fotoarchive, Bildarchive, Fotoschulen in den kommenden Jahren bereitstehen, die Erziehung zum Bild, die Befragung des Bildes und seiner Folgen für die Kommunikation, für unser Leben mit elektronischen Bildern, mit geeigneten Modulen für Schulklassen und Lehrer, für Kinder und Erwachsene bereitzustellen.
Und dafür braucht es eine deutliche Stärkung dieser Institutionen. Auf der einen Seite eine Stärkung in der Sammlung, Archivierung und in der Aufarbeitung der Negative, der Prints, und in der Erarbeitung der Inhalte und Kontextualisierungen, auf der anderen Seite aber vor allem eine Stärkung der Vermittlung, des Wissens um diese Bilder, der Erforschung der Fotografie als Kommunikationsmittel, als Gestaltungsmittel der Wirklichkeit. Die Stärkung der Produktion von sinnvoller visueller Dokumentation.
Deshalb rufe ich hier in diesem ersten Newsletter von Spectrum auf zu einem grossen Bildverständnis in der Schweiz, und in der Welt. Für eine visuelle Kommunikation, die wir «beherrschen» und nicht umgekehrt. Für ein reiches, möglichst umfangreiches visuelles Gedächtnis des Lebens und Arbeitens in der Schweiz! Verbunden mit der Bitte an alle und besonders an die Behörden um mehr Aufmerksamkeit für dieses Thema und um substantiell mehr finanzielle Mittel!