Mai 2019
Das Bildarchiv der ETH-Bibliothek zu leiten, seit März 2008 habe ich diese Funktion in Vollzeit inne, ist sehr vielfältig. Ich sage immer, das Bildarchiv sei wie eine Bibliothek in der Bibliothek. Das heisst, mit meinem Team (fünf festangestellte Mitarbeitende mit insgesamt 370 % und vier studentische Hilfskräfte mit total 130 %) decken wir die vier klassischen bibliothekarischen Arbeitsprozesse von der Erwerbung über die Erschliessung und Vermittlung bis zur Archivierung zum grossen Teil selber ab.
Die Erwerbung von Bildern richtet sich nach der Erwerbungs- und Sammlungsstrategie der ETH-Bibliothek (doi.org). Dazu gehören Bilder aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften, der Technik, aber auch Luftbilder, Landschafts- und Ortsansichten sowie Porträts von ETH-Persönlichkeiten. Nebst dem Inhalt gibt es noch weitere Kriterien wie Vollständigkeit, Nutzungsrechte, vorhandene Metadaten oder physischer Zustand. Soweit die Bilder unserer Sammlungsstrategie entsprechen, sind die Chancen sehr gross für eine Aufnahme in unseren Bestand. Wir sagen nein, wenn ein bestimmtes Thema bereits breit abgedeckt ist, und zu Beständen, die unserem Profil nicht entsprechen. Niemand würde im Bildarchiv der ETH-Bibliothek z. B. nach Modefotografien suchen.
Kleinere Bildbestände von Instituten oder Professuren der ETZ Zürich werden laufend übernommen. Auch von privater Seite nehmen wir regelmässig Bilder entgegen, wenn sie einen Bezug zur ETH und ihren Forschungsgebieten haben. Seltener übernehmen wir ausgewählte Grossbestände von Privaten, Firmen oder Stiftungen. Bekannt sind etwa das Archiv der liquidierten Zürcher Fotoagentur Comet Photo AG, die Postkartensammlung von Adolf Feller mit über 50'000 frühen Postkarten aus aller Welt, das Archiv der Luftbild Schweiz AG mit den Teilbeständen von Walter Mittelholzer und dem Swissair-Firmenfotoarchiv oder die Bilder der Stiftung Industriekultur Schweiz von Hans-Peter Bärtschi. Der Gesamtbestand umfasst derzeit rund 3,5 Millionen Bilder, überwiegend Fotografien ab 1860.
Schwerpunkt der Sammlungen sind gesamtschweizerische Themen, so das Swissair-Luftbildarchiv mit rund 100'000 Luftbildern der Stiftung Luftbild Schweiz. Die Digitalisierung dieser Sammlung hat uns seit 2011 beschäftigt, im 1. Quartal 2019 werden wir das Projekt abschliessen können. Ende 2018 veröffentlichten wir übrigens eine Hintergrundgeschichte zu Luftbildern auf unserer Storytelling-Plattform Explora (explora.ethz.ch). Andere Bestände wie bspw. die frühen Forschungsreisen unserer ETH-Professoren decken selbstverständlich auch viele unterschiedliche Regionen der ganzen Welt ab.
Durch den steigenden Bekanntheitsgrad, den das Bildarchiv der ETH-Bibliothek in der Bevölkerung in den letzten Jahren erfahren hat, steigen auch die Angebote von Privatpersonen. Im Moment befinden wir uns in der Kleinbilddia-«Schwemme». Schwemme deshalb, weil diese Sammlungen, die einen Zeitraum bis zu 50 Jahren abdecken können, oft mehrere zehntausend Dias umfassen. Bei solchen Beständen handelt es sich meist um thematische Sammlungen wie etwa zu Orchideen, Parasiten oder Architektur, die gewissermassen als Lebenswerk einzelner Fotografen aufgebaut wurden. Idealerweise bekommen wir die Bilder direkt vom Fotografen, so dass er uns die Rechte für Digitalisierung, Onlineschaltung und freie Nutzung übertragen kann.
Angesichts der immer grösser werdenden Bestände – und dies ist nicht erst ein Phänomen der digitalen Fotografie, nein das begann schon Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Kameras immer einfacher zu bedienen und das Fotomaterial immer kostengünstiger wurde – ist die Bewertung ein zentrales Thema, das alle (Bild-)Archive umtreibt. Kein Bestand ist beschaffen wie der andere. Jeder Bestand muss für sich bewertet werden. Bei praktisch jedem Arbeitsschritt muss eine Entscheidung getroffen werden. Wird ein Bestand überhaupt übernommen? Wird er nach der Übernahme gleich erschlossen und aufgearbeitet? Wird er digitalisiert, wenn ja vollständig oder nur auszugsweise? Wer wählt die zu digitalisierenden Bilder nach welchen Kriterien aus? Usf.
In unserer Bilddatenbank E-Pics Bildarchiv Online (ba.e-pics.ethz.ch) sind im Moment rund 425'000 Bilder online. In der Bilddatenbank E-Pics Tiere, Pflanzen und Biotope (biosys.e-pics.ethz.ch), die das Bildarchiv ebenfalls betreut, sind es rund 50'000 Bilder. Das interne DigiCenter der ETH-Bibliothek digitalisiert jährlich 60'000 bis 80'000 unserer Bilder, wobei durchschnittlich 30'000 bis 40'000 Aufnahmen fertig erschlossen werden und online gestellt werden können. Für die Digitalisierung werden die Bestände priorisiert. Die Priorisierung erfolgt in den meisten Fällen nach inhaltlichen Kriterien. Es können aber konservatorische Überlegungen, das fotografische Material baut ja chemisch gesehen kontinuierlich ab, zu einer Bestandesbearbeitung führen.
Ein wichtiger Einschnitt in die Arbeitsprozesse des Bildarchivs und gleichzeitig ein neues Tätigkeitsfeld stellt das offene Crowdsourcing seit Januar 2016 für mein Team und mich dar. Wir haben 2009 mit dem sogenannten Crowdsourcing begonnen. Swissair-Pensionäre haben während vier Jahren die 40'000 digitalisierten und oftmals schlecht oder falsch beschrifteten Bilder identifiziert und deren Titel und Beschreibungen verbessert. Im Dezember 2015 schliesslich öffneten wir auf unserer Bilddatenbank die Kommentarfunktion, so dass Nutzer/innen zu jedem Bild einen Hinweis abgeben können. Dank einer grossen Medienaufmerksamkeit in NZZ, Tagesschau und Radio haben wir eine treue und fleissige Community aufbauen können. Wir bekommen monatlich 1'200 E-Mails, die wir manuell in die bestehenden Metadaten wie Titel, Autor, Beschreibung oder Datierung einarbeiten.
Informationen zu neuen Bildern oder die monatlichen Statistiken veröffentlichen wir auf unserem Crowdsourcing-Blog (blogs.ethz.ch), der kurz nach dem Medienhype im Mai 2016 online ging. Ich hatte sehr schnell bemerkt, dass wir mit der Crowd kommunizieren müssen, weil ansonsten das Interesse schnell versandet. So gibt es im Blog jeden Montag einen Post zu «Wissen Sie mehr?», in dem wir neue Bilder für die Identifikation vorstellen. Am Freitag folgt dann «Sie wussten mehr! Danke!». Hier präsentieren wir die interessantesten verbesserten Bilder der vergangenen Woche. Der Blog ist ein wichtiges Tool für das sogenannte Community Management, das sehr zeit- und ressourcenintensiv ist. Daneben organisieren wir jährliche Treffen mit der Crowd, um den Austausch untereinander zu fördern. Eine Videokampagne dokumentiert sechs verschiedene Freiwillige und deren Vorgehen bei der Identifikation der Bilder (youtube.com). Regelmässig habe ich Gelegenheit, bei Konferenzen über unser erfolgreiches Crowdsourcing zu berichten (alle Vorträge finden sich auf unserer Research Collection, research-collection.ethz.ch).
Seit Februar 2018 kann unsere Crowd ausgewählte Bilder zudem auf der kollaborativen Crowdsourcing-Plattform sMapshot (smapshot.heig-vd.ch) in spielerischer Art und Weise georeferenzieren. Achtung: Hier besteht akute Suchtgefahr! Dank sMapshot erhalten können wir den geografischen Footprint eine Fülle an weiteren Geo-Metadaten ermitteln. So enthalten die Metadaten einer Ortsansicht nicht nur den Ort als Titel, sondern neu sind auch Ortsquartiere, Flüsse und Berge als suchbare Metadaten hinterlegt. Die Bildersuche kann nun also viel genauer erfolgen, zudem sind neue Einbindungen der Bilder in geografischen Anwendungen denkbar. Metadaten sind ein angestammtes Feld von Archiven und Bibliotheken. Neu aber ist, dass uns interessierte Freiwillige bei der Metadatierung der Bilder helfen.
Es gäbe noch so vieles zu erzählen! Kurz erwähnen – unter dem Stichwort Vermittlung – möchte ich abschliessend noch unsere Buchpublikationen «Bilderwelten» beim Zürcher Verlag Scheidegger & Spiess und unsere Ausstellungen wie etwa die letzte über Walter Mittelholzer im Landesmuseum Zürich im Sommer 2018.
Nicole Graf, lic. rer. soc., MA Bildwissenschaft
Geboren 1970 und aufgewachsen in der Ostschweiz. Ausbildung zur Diplombibliothekarin BBS an der Nationalbibliothek in Bern, Studium Soziologie, Staatsrecht und Neuere Schweizer Geschichte an der Universität Bern. Wissenschaftliche Assistentin, wissenschaftliche Redaktionsassistentin an der Universität Bern und freie Filmjournalistin bei der «Berner Zeitung». Seit 2008 Leiterin des Bildarchivs der ETH-Bibliothek in Zürich. Mit-Herausgeberin der Reihe «Bilderwelten. Fotografien aus dem Bildarchiv der ETH-Zürich» (Scheidegger &Spiess, Zürich, ab 2011). Masterstudium Bildwissenschaft an der Donau-Universität in Krems (A). Seit Mai 2016 auch Bloggerin auf dem bibliothekeigenen Crowdsourcing-Blog.