Auf der Suche
Von Sophie Junge

Dieser Text handelt von der Suche nach Fotografien aus kolonialen Kontexten, die als Zeuginnen einer vergangenen Zeit archiviert werden und gleichzeitig in Publikationen, Ausstellungen und den sozialen Medien weiterzirkulieren. Er handelt auch von der Suche nach Sehkonventionen und imaginierten, potenziell anderen Bildern, die nicht (mehr) existieren oder nie aufgenommen wurden. Damit beschreibt er meine Forschungstätigkeit als Fotohistorikerin, die Suche nach Bildern und Deutungen, nach Begegnungen und Provenienzen, nach Fragen statt Antworten. Es ist eine Suche nicht nach herausragenden Einzelbildern, sondern im Gegenteil, sie verläuft innerhalb einer überwältigenden Fülle an Bildern.

Ich suche Fotografien aus Indonesien, aufgenommen und reproduziert in der Zeit um und nach 1900, während der kolonialen Besetzung durch die Niederlande. Vor der Unabhängigkeit Indonesiens 1949, gehörte der Archipel zur Kolonie Niederländisch-Ostindien. Heute befinden sich die ‘kolonialen’ Fotografien von Landschaften, Menschen und Stadtansichten von Jakarta (damals Batavia) oder Surabaya (damals Soerabaja) zum grössten Teil nicht mehr an ihrem indonesischen Aufnahmeort, sondern in niederländischen Archiven, wie der Universitätsbibliothek Leiden; dort lagern grosse Bestände, unzählige Bild-Objekte, Alben und Postkarten, über die wenig bekannt ist. Die Fülle des Archivs und das Nicht-Wissen über die einzelnen Bilder – dieses Paradox begleitet meine Arbeit, der Umstand, dass Fotografien in Archiven und Sammlungen, analog und digital, vorhanden und verfügbar sind und dennoch fast nichts über sie bekannt ist.

Mein erstes Interesse galt der Provenienz der Fotografien, ihrer Entstehungskontexte und Reiserouten: Wer hat die Bilder aufgenommen, reproduziert, gekauft und verschickt? Schnell rückten Postkarten in den Blick, mobile Bildmedien per se, die klein und kostengünstig von einer breiten (europäischen) Mittelschicht konsumiert wurden. Die Rekonstruktion der Reise einzelner Postkarten erwies sich dennoch als schwierig, weil die meisten Karten im Archiv gesammelt und in Alben geklebt, selbst aber gar nicht gereist waren. Es fehlten Stempel und Briefmarken, anhand deren die Reiseerfahrung der Karten hätte rekonstruiert werden können. Ergiebiger war die Suche auf Online-Flohmärkten, wo Postkarten mit persönlichen Grüssen, Stempeln und Briefmarken verkauft werden und so zur Datierung der Archivbestände beitragen.

Die Geschichten kommerzieller europäischer Fotostudios auf Java und Sumatra, wie die Unternehmen des deutschen und des armenischen Fotografen Herman Salzwedel und Ohannes Kurkdjian in Surabaya, konnten ebenfalls nachvollzogen werden. Auch hier handelt es sich eher um vereinzelte Informationen, denn ein grosser Teil der fotografischen Bestände kann keinem Studio mehr zugeordnet werden. Was ich also fand, waren die Namen europäischer Männer, deren wirtschaftlichen «Erfolgsgeschichten» schnell Eingang in Archive und in Geschichtsnarrative fanden oder bereits gefunden hatten, denn die Wahrnehmung des europäischen Kolonialismus in Südostasien ist seit dem 19. Jahrhundert in den Niederlanden, aber auch in England vor allem als wirtschaftsorientiertes Unterfangen konstruiert worden.

Was ich hingegen nicht fand, waren Informationen über die auf den Fotografien abgebildeten Personen, sei es auf Studioporträts oder im gezeigten Stadtraum, und über die vielen Personen, die Abzüge und Reproduktionen tatsächlich anfertigten. Hier handelte es sich wohl vornehmlich um Indonesier*innen, die als Angestellte in Fotostudios und Druckereien für die grossen Bildbestände verantwortlich waren. Diese Bildproduzent*innen, wie die abgebildeten Studiomitarbeiter*innen von Ohannes Kurkdjian, der ab 1900 als Hoffotograf der niederländischen Königin Wilhelmina eines der prestigeträchtigsten Studios in Surabaya führte, sind heute unbekannt. Sie zu benennen, auch wenn ihre Namen fehlen, erscheint wichtig, um sie zumindest nachträglich in die Geschichte einzuschreiben und nicht ein weiteres Mal zu verschweigen. 

Die Provenienz und die Reiseroute der fotografischen Bilder, ihre soziale Biografie, gibt Auskunft über die Produktion, Rezeption und die historischen und aktuellen, politischen und persönlichen Funktionen der Fotografien; diese Biografien zu erforschen, ist ein Weg, um die Bilder in ihren Bedeutungen zu erfassen. Für meine Deutung ist es jedoch entscheidender zu fragen, was die Fotografien zeigen und wie sich koloniale Unrechtskonstellationen erkennen lassen, die auf den Bildern anwesend sind, doch dem Blick meist verborgen bleiben.

Die Fotografien aus Surabaya bilden eine kolonialisierte Stadt um 1900 ab und bekräftigen die Weltsicht der europäischen Kolonialmacht, den «white gaze». Sie zeigen den urbanen Raum, oft von oben und aus der Distanz aufgenommen, als europäischen Stadtraum mit vielen Freiflächen. Die Stadt wirkt «entleert» und ruhig; Menschen sind klein abgebildet und fügen sich fast unmerklich in diesen Raum ein. Die Fotografien zeigen viel und geben doch wenig preis; vor allem machen sie glauben, dass das Leben in Surabaya friedlich und ruhig, geordnet und sicher ist. Damit bilden sie die Rhetorik der niederländischen Kolonialregierung ab, die Ruhe und Ordnung («rust en orde») als Messwert ihrer erfolgreichen kolonialen Führung ansah. Um 1900 warb die Kolonialregierung um niederländische und europäische Siedler*innen, die sich auf Java und Sumatra niederlassen sollten; auf den Fotografien bestätigen die Freiflächen den verfügbaren, für die europäische Aneignung bereitstehenden Raum. 

Der politische Gehalt der Fotografien verstärkt sich noch, wenn man in Betracht zieht, was die Fotografien nicht abbilden: Surabaya war um die Jahrhundertwende die zentrale Hafen- und Handelsstadt auf Java, heiss und schwül, geschäftig und laut, dicht bevölkert mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sprache, die sich auf der zentralen Roten Brücke über den Fluss Mas begegneten. Auf den Aufnahmen wird die Stadt als Begegnungsort jedoch gerade nicht gezeigt, ebenso wenig wie die Lebensbedingungen und Quartiere der indonesischen Bevölkerung. Auch soziale Konflikte und koloniale Gewalt bleiben unsichtbar, die Gewerkschaftsstreiks und blutigen Ausschreitungen gegen Demonstrant*innen der indonesischen Nationalbewegung in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts werden nicht fotografisch repräsentiert. Die Ausblendung der indonesischen Bevölkerung, der politischen Gegenwart und der Fragilität der niederländischen Macht manifestiert die Bildpolitik der kolonialen Fotografien. 

Bei der Betrachtung dieses einseitigen Bilddiskurses stellt sich nun die Frage, ob es andere Aufnahmen von Surabaya gibt, die in den Archiven fehlen, die das inszenierte Bild der Stadt ergänzen und sichtbar machen, was die vorhandenen Fotografien verschleiern. Aber es finden sich aus der Zeit um 1900 keine «Gegenbilder». So hat sich die Suche verschoben – hin zu den Leerstellen in den Fotografien und damit zu potenziell anderen Bildern, die nicht mehr existieren oder gar nie aufgenommen wurden. Es fällt nicht leicht, sich diese anderen Repräsentationen der Stadt vorzustellen, denn die bestehenden Fotografiebestände haben die eigenen Sehgewohnheiten über Jahre hinweg geprägt. Die Suche nach anderen Bildern ist also zunächst eine Reflektion von kolonialen Bildkonventionen und den damit verbundenen Gewohnheiten und Erwartungen. Was will ich sehen, wo schaue ich hin (und wo nicht), wenn ich «Surabaya, Indonesien, 1890» auf einer Postkarte lese? Wie stark kann ich meine eigenen europäischen Sehgewohnheiten reflektieren, die bestimmte – auch durch die Geschichte des Kolonialismus geprägte – Deutungsmuster unmittelbar hervorbringen?

Die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy hat im Rahmen der Debatten um die Restitution von Kulturgütern aus ehemals kolonisierten Gebieten untersucht, wie koloniale Deutungsmuster durchbrochen werden können. Auch sie fragt nach den Reiserouten der vielen Objekte, die heute in europäischen Museen ausgestellt werden, aber verschiebt den Blick auf die Träger*innen dieser Objekte, auf die Entfernungen, die sie schwer beladen und meist zu Fuss zurücklegen mussten, bis ihre Last verschifft nach Europa weiterreiste. Übertragen auf die Stadtansichten von Surabaya, liesse sich fragen: Wer hat in der Hitze die Strasse gefegt und die Wege im Park geharkt? Und wer hat die Kameraausrüstung getragen, aufgebaut und ins Studio zurückgebracht? Diese einfachen Fragen verschieben den Blick auf die Darstellung der Stadt und rücken ihre, meist unsichtbaren indonesischen Bewohner*innen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie machen damit die «tiefen Frequenzen» der Fotografien hörbar, wie Tina Campt es in ihrem Buch Listening to Images nennt, und unterlaufen so ihre offensichtlich kolonial-ideologische Aussage.

Die Suche nach neuen Fragen und potenziell anderen Bildern ist herausfordernd und kann überhaupt nur in der unmittelbaren haptischen Auseinandersetzung mit den Foto-Objekten gelingen. Durch die Pandemie ist dies besonders deutlich geworden; geschlossene Archive und Reisebeschränkungen haben gezeigt, dass die tiefen Frequenzen von Fotografien kaum gehört werden, wenn sie nicht physisch, sondern nur digital vorhanden sind. Als digitale Daten im Kontext von Online-Sammlungen können sie den gesetzten Rahmen nur schwer verlassen und bleiben in ihrer kolonialen Rhetorik bestätigt. 

Es geht in meiner Forschung also um die Deutungshoheit von Fotografien und Postkarten, die kleinformatig und mobil einen besonders grossen Wirkungsradius hatten und koloniale Ideologien bis in das eigene Zuhause, auch das vieler Schweizer*innen, schickten. Als Forscherin mache ich diese Bildpolitik sichtbar und verleihe Gewicht, kann selbst Bedeutung zusprechen und die historische Wirkmächtigkeit der kleinen Bildträger hervorheben. Damit praktiziere ich das, was Ariella Azoulay als «potential history» bezeichnet hat – eine potenziell anders gedachte und gezeigte Geschichte. Eine andere Bildgeschichte der Fotografien aus ehemals kolonialisierten Kontexten zu schreiben ist spekulativ und nicht zwingend ergiebig, aber darin liegt eine politische Verantwortung.